Die Macht, wie er sie sah
Iwan der Schreckliche, Stalin – und heute? Was uns der große Regisseur Sergej Eisenstein über das Verhältnis von Kunst und Politik in Russland erzählen kann. Eine Spurensuche in Moskau.
Von Katja Nicodemus
Aus der ZEIT Nr. 33/201421. August 2014
Es ist, als betrete man ein verwunschenes Reich. Oder eine Schatzkammer. Oder als begebe man sich mit dem Schritt über die Türschwelle in eine Zeitmaschine. Jedenfalls glaubt man sich plötzlich nicht mehr mitten im heißen, verkehrsdröhnenden Moskau. Hier, im dritten Stock eines unscheinbaren Klinkergebäudes an der sechsspurigen Smolenskaja Uliza, nicht weit von den stalinistischen Türmen des russischen Außenministeriums, befindet sich das Herz des russischen Kinos. Oder sollte man eher sagen: das Herz der Kinogeschichte?
"Dieser Ort gehört nicht uns oder Russland, sondern der Welt", sagt Naum Klejman, als er die Wohnungstür hinter der Besucherin schließt. Der weißhaarige Filmwissenschaftler mit der sanften Stimme und dem tadellosen Deutsch ist der Hüter des Sergej-Eisenstein-Apartments. In der Zweizimmerwohnung befinden sich die Bücher und Bilder, die Möbel, Kunst- und Kulturschätze des großen russischen Regisseurs, der bis heute einer der einflussreichsten Filmkünstler der Welt ist. Eisenstein, 1898 in Riga geboren, Weltreisender und Kosmopolit, stammte aus großbürgerlichem Hause und wurde zum überzeugten Kommunisten. Eisenstein war der führende Regisseur der frühen Sowjetunion und doch ein zutiefst eigenständiger Künstler, der sich der Vereinnahmung entzog. Mit seiner auf Rhythmuswechseln, harten Kontrasten und Schockeffekten beruhenden "Montage der Attraktionen" erfand Eisenstein für das Kino den Schnitt als Sprache. Seine im Spannungsfeld von Kunst und Propaganda entstandenen Schriften prägen bis heute die Filmtheorie.
Es war der Film Panzerkreuzer Potemkin über den 1905 von der zaristischen Marine brutal niedergeschlagenen Matrosenaufstand in Odessa, der Eisenstein 1925 in die ewige Avantgarde des Kinos katapultierte. Noch heute hält der sich dramatisch steigernde, mitreißende Rhythmus den Zuschauer in Atem. Unzählige Male wurde die berühmte Treppenszene mit dem erschossenen Kindermädchen und dem die Stufen herabpolternden Kinderwagen von anderen Regisseuren zitiert.
In Oktober zeichnete Eisenstein 1928 ein dialektisches Bild der russischen Revolution. Die Dramaturgie des Films wurde von der sowjetischen Kritik als zu intellektuell kritisiert, seine wie Marionetten an den Fäden des Schicksals hängenden Figuren als nicht vereinbar mit dem entschlossenen Geist der kommunistischen Revolution empfunden. Sergej Eisenstein verfilmte in Iwan der Schreckliche das Leben des Zaren als Geschichte eines idealistischen Aufbruchs, der in Blut, Verrat, Unterdrückung und Terror endet – und führte damit die dunkle, fürchterliche Seite des Stalin-Regimes vor. Den zweiten Teil von Iwan der Schreckliche ließ Stalin verbieten, den dritten vernichten. Kurz: Wer etwas über die russische Kultur und das Verhältnis von Kunst und Macht in Russland erfahren will, der tut nicht schlecht daran, sich in diese kleine Wohnung zu begeben, in der Naum Klejman und seine Tochter Vera, ebenfalls Filmwissenschaftlerin, fast täglich über Eisenstein forschen, die von ihm gelesenen Bücher samt Anmerkungen katalogisieren, weltweite Kontakte halten – und nebenbei Besucher empfangen.
Ein weltoffener Ästhet, Geistesmensch und begeisterter Sammler
Während die Klejmans Kaffee und Kuchen auftischen, gewöhnt sich das Auge an das schummerige Licht in der Wohnung, deren Vorhänge zum Schutz der Bücher und Bilder zugezogen sind. Und schon beim ersten kurzen Rundgang durch Eisensteins Reich hat man das Gefühl, einem weltoffenen Ästheten und Geistesmenschen zu begegnen, einem begeisterten Sammler, der ständig im Dialog mit anderen Künsten und Kulturen stand. An den Wänden des mit Bauhaus-Möbeln eingerichteten Apartments hängen Bilder von Fernand Léger und Kiki de Montparnasse, Stiche mit den Porträts von Puschkin und Gogol. Viele Mitbringsel und Kunstwerke zeugen von seiner Reise- und Entdeckungslust: Aztekenköpfe und Wandteppiche aus Mexiko, Originalplakate des japanischen Kabuki-Theaters. Oder ein Foto von Charlie Chaplin und ein liebevoll handgezeichneter Mickymaus-Comic von Walt Disney mit Widmung "to my dear friend Serge Eisenstein" – beide entstanden während Eisensteins Aufenthalt in Hollywood.
Nicht viel anders hat die Wohnung ausgesehen, als Klejman hier 1962 als junger Student der Filmwissenschaften zum ersten Mal die Witwe Eisensteins besuchte. Pera Eisenstein hatte 14 Jahre nach dem Tod ihres Mannes dieses Apartment bezogen, in dem sie die Anordnung der Bücher, Bilder und Gegenstände exakt wie in der früheren gemeinsamen Wohnung beibehielt. Wie gerne würde man sich hier ein paar Monate lang mit einem Feldbett zwischen die Regale quetschen, alles lesen, bewundern, berühren! Und vielleicht auch ein bisschen abstauben.
Irgendetwas irritiert beim Betrachten der Bibliothek. Was? Es ist das Fehlen einer Ordnung, eines Systems. Weshalb nur befindet sich eine Abhandlung über die Migration der Vögel neben einem Buch über die Inszenierungskunst? Was hat die Bibel neben den Theorien des Schauspiellehrers Stanislawski zu suchen? Und wieso steht neben Stanislawski ein Buch des spanischen Ordensgründers Ignatius von Loyola? "Eisenstein ordnete die Bücher nach seinem gedanklichen Muster an", sagt Klejman, "hier ist es die Verwandtschaft von christlicher Lehre, Stanislawskis Psychotechnik und Loyolas Exerzitien. Und von den klugen Vögeln lernt die Inszenierung, dass der kürzeste Weg nicht immer der beste ist, dass es andere Routen, mit Wasserstellen oder Ruheorten, gibt." Letztlich, so stellt man fasziniert fest, funktioniert diese ganz und gar unorthodoxe, radikal persönliche Bibliothek wie Eisensteins Montage der Attraktionen, bei der es ja auch um die Infragestellung bürgerlicher Kunstbegriffe geht, um assoziative, stimulierende, überraschende und manchmal auch brachiale Verkettungen. Und es scheint, als sei der zierliche Herr Klejman, der über die vielen Jahre in aller Bescheidenheit zum Vermittler zwischen Eisensteins genialischen Gehirnwindungen und der Welt geworden ist, selbst zu einem Teil der Wohnung geworden. Aber wenn er mit gesenktem Kopf über seine Brillengläser hinweg schelmisch nach oben blickt oder selbstironische Bemerkungen über das Älterwerden mit Sergej macht, entsteht eine schöne Distanz.
Vorsichtig zieht Klejman James Joyce’ Ulysses aus dem Regal, mit einer Widmung von 1929. Es war das Jahr, in dem Sergej Eisenstein den von ihm zutiefst verehrten Schriftsteller in Paris besuchte. Sein Projekt, Karl Marx’ Das Kapital im Sinne von Joyce als Bewusstseinsstrom und als einen einzigen Tag im Leben eines Arbeiters zu verfilmen, konnte er nicht verwirklichen. Es kann einem schwindelig werden, wenn man versucht, sich auszumalen, was für ein abgefahrener Film dabei herausgekommen wäre.
Wir sprechen über Eisensteins Interesse für Psychoanalyse und seine Studien zu Freud, Jung und Wilhelm Reich, über seinen Versuch, 1930 mit einem Paramount-Vertrag in Hollywood Fuß zu fassen, über seinen nie vollendeten, 1932 gedrehten Mexiko-Film, ein farbenfrohes Geschichtsepos über die mexikanische Revolution. In der abgedunkelten Wohnung scheint die Zeit anders zu vergehen als draußen, wo weiter der Verkehr tobt. Und während sich der Vormittag seinem Ende zuneigt, fragt sich die Besucherin, weshalb sie die Geistesfülle dieses Ortes beglückt und doch auch irgendwie traurig stimmt.
Es ist vielleicht das Vertrauen in die utopische, Nationen und Zeitalter verbindende Kraft der Kunst, die in diesen Räumen steckt. Die Begegnung mit diesem anderen, weltoffenen, über Nationalismen und Grenzen erhabenen Russland, einem Russland, das in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen Augenblick lang glaubte, sich wie der Konstruktivist Kasimir Malewitsch mit seinem Weißen Quadrat in aller Freiheit neu erfinden zu können – und das dann von Ideologie und Terror vernichtet wurde.
"Eisensteins Universalismus wäre der richtige Weg für dieses Land zwischen den Kontinenten gewesen", sagt Klejman. "Heute gibt es nur Ost- oder Westanbindung. Dabei versteht man den Osten nur als Tyrannei und den Westen nur als Demokratie. Eisenstein dachte anders. Er fühlte sich der europäischen Kultur wie den asiatischen Philosophen verbunden, und er war, wie alle Revolutionäre der zwanziger Jahre, auch ein Kind des sogenannten silbernen Jahrhunderts der russischen Literatur mit seiner Aufbruchstimmung. Mandelstam, Zwetajewa, Pasternak, Achmatowa!" Und in welchem russischen Jahrhundert leben wir heute? Klejman lächelt kurz, dann fragt er resigniert: "Im Jahrhundert der Angst? Im eisernen Jahrhundert? In der Steinzeit?"
"Manchmal ist der Mittelpunkt der Welt ein kleines Zimmer voll mit Bildern und Büchern"
In einer Art Übersprunghandlung holt Naum Klejman das Gästebuch des Eisenstein-Apartments hervor. Ein auseinanderfallendes Büchlein mit zerschlissenem Einband. Beim Durchblättern liest man enthusiastische Einträge von King Vidor, Robert Wise, Otar Josseliani, Paul Verhoeven, Alan J. Pakula, Robert Redford, Werner Herzog, Edith Clever, Volker Schlöndorff, Terry Gilliam, Jim Jarmusch. "Manchmal ist der Mittelpunkt der Welt ein kleines Zimmer voll mit Bildern und Büchern", schreibt Wim Wenders. "Sehen Sie, in dieser Wohnung kann man erleben, was Russland mit der Welt verbindet", sagt Naum Klejman. "Nicht das, was Russland von der Welt trennt. Es ist wichtig, zu zeigen, dass wir nicht die Hölle sind. Sondern noch die Erde. Und nicht nur ein dunkles Land voller Klischees."
Man kommt nicht umhin, an das dunkle Land im zweiten Teil von Eisensteins 1945 gedrehtem Film Iwan der Schreckliche zu denken. An den einsamen, grausamen Herrscher mit den großrussischen Bestrebungen. Den gegen ihn aufbegehrenden Bojaren-Adel lässt Iwan von seiner Privatarmee, den Opritschniki, umbringen. Auf seinen Widersacher hetzt er einen Attentäter, der in der Kathedrale zusticht. In den harten Schatten von Eisensteins expressionistischen Bildern wirkt der hagere, durch die Palastfluchten schleichende Zar wie ein Dämon. "Als der Film nach dem Verbot erst 1958 ins Kino kam, haben wir gesehen, dass jemand in Stalins Zeiten den Mut hatte, ihm mit einem Kunstwerk zu sagen, was er über seine Tyrannei denkt", sagt Klejman. "Ich verstehe nicht, weshalb die jüngeren Generationen, die dem stalinistischen Terror so fern sind, heute nicht ein wenig mehr Mut und Zivilcourage zeigen."
Letztlich sei Iwan der Schreckliche auch vor dem Hintergrund des heutigen Russlands zu lesen: "Noch heute sind wir Untertanen. Untertanen der Macht. Es gibt einen Staat, aber keine Gesellschaft. Das ist Russlands Tragödie. In den zwanziger Jahren gab es hier eine Kunst und ein Kino, die versuchten, Bürger mit Verantwortung zu erziehen, es gab Erziehungsbewegungen. Eisenstein zum Beispiel wollte mit dem Film Oktober nicht die Revolution verherrlichen, sondern den Zuschauer dazu anleiten, dialektisch zu denken!" Und heute? Kein Fortschritt, keine Hoffnung, nirgends? "Ach wissen Sie", sagt Klejman, "vielleicht brauchen wir einfach noch ein paar Jahrhunderte."
Am Nachmittag lädt Klejman zur Besichtigung von Eisensteins Nachlass ins russische Filmmuseum, dessen Geschicke er 25 Jahre lang, bis zum Juli dieses Jahres, geleitet hat. Zu Fuß spazieren wir über die Borodinsky-Brücke, die Stalin stets auf seinem Weg in die Datsche überquerte und mit protzigen Säulen ausstatten ließ, zum Kiewer Bahnhof. Mit dem Bus geht es weiter, entlang der trüben Moskwa. In der Ferne sieht man die nagelneuen Hochhaustürme von Moskau City glänzen, einem Bauprojekt, das, noch nicht einmal fertiggestellt, schon als Symbol für Korruption, Gier und nicht vorhandener Stadtplanung gilt. Nicht weit vom Ufer der Moskwa, auf dem Gelände des staatlichen Filmkonzerns Mosfilm, hat das russische Filmmuseum eine improvisierte Zwischenstation gefunden, nachdem es sein ursprüngliches Gebäude im Laufe einer sich über Jahre hinziehenden Privatisierungsintrige verlor. Vorbei an einer gigantischen Studiohalle, in der gerade die kitschige Istanbul-Kulisse einer Fernsehserie abgebaut wird, führt der Weg über labyrinthische Treppen in die Räume des Museums. Ein langgezogener Flur und eine Handvoll Räume, teilweise bis zur Decke vollgestopft mit Objekten. 140.000 Drehbücher, Zeichnungen, Kostüme, Bilder, Schriften, Dokumente zum russischen Kino umfasst die Sammlung. An den Wänden des Ganges hängen Kinder- und Jugendzeichnungen von Eisenstein. Es sind messerscharfe Beobachtungen, Porträts, Karikaturen, humorvolle Charakterstudien. Man sieht genau, wie unbestechlich der kleine Sergej schon damals, in Riga um 1910, auf die Welt blickte.
Als wir in der Kantine des Filmmuseums Gemüsesuppe und Rouladen essen, kommt die Sprache auf ein neues Gesetz, das am ersten Juli in Russland in Kraft getreten ist: das "Gesetz zum Verbot von nicht normativer Lexik". Es verbietet Flüche und vulgäre Ausdrücke im Fernsehen, in Filmen, im Theater, auf Konzerten, in der Literatur. Letztlich handelt es sich um eine Form der Zensur, um den Versuch, Kontrolle über jede Art von kultureller Handlung zu erlangen. Für das Filmmuseum bedeutet dies, dass jeder Film, ob alt oder neu, und egal, ob er in einer Klassikerreihe im Kino oder intern zu wissenschaftlichen Zwecken gezeigt wird, einer Genehmigung durch das Kulturministerium bedarf. Man könnte auch von einer rückwirkenden "Bereinigung" der Kinogeschichte sprechen.
Einige Regisseure beginnen bereits, ihre früheren Filme nachzusynchronisieren. Müsste man dem Ministerium nicht auch Eisensteins Werke vorlegen, die an Feiertagen im russischen Fernsehen laufen? Wie soll man sich gegenüber dieser Absurdität verhalten? Naum Klejman schaut lächelnd auf die Reste seiner Roulade. Dann zitiert er einen Satz des Schriftstellers und Historikers Nikolai Michailowitsch Karamsin vom Beginn des 19. Jahrhunderts: "Die Strenge der russischen Gesetze wurde dadurch kompensiert, dass niemand sie befolgte." Er faltet seine Serviette zusammen. "Wir werden die Filme natürlich einfach zeigen. Mal schauen, was passiert."