Deutschlands neue Regierung hat sich vergangene Woche auf ihre grundlegenden Prinzipien geeinigt, einschließlich der Kontinuität in ihrer Nahost-Politik. Deutschland wird seine starke pro-israelische Haltung beibehalten, basierend auf dem Prinzip von Staatsräson – "Staatsgrundlage". Gerade dieses Prinzip wird aber derzeit verwendet, um die politischen Freiheiten in Deutschland zu verletzen.

In einer kürzlichen Eskalation ordneten die Berliner Behörden die Abschiebung von vier pro-palästinensischen Aktivisten an – drei EU-Bürgern und einem Amerikaner, von denen keiner wegen eines Verbrechens verurteilt wurde. Vielmehr ging es unter Berufung auf Staatsräson ihre angedrohten Abschiebung darum, antiisraelische Ansichten abzuhalten. Obwohl eine dieser Deportationen später vom Berliner Verwaltungsgericht für ungültig erklärt wurde, folgte der Schritt auf 18 Monate Absagen, Verbote und Entlassungen von Künstlern, Akademikern und Referenten – Palästinensern, Juden, Israelis und anderen –, weil sie sich gegen Israel ausgesprochen hatten.

- Werbung -

Der Begriff Staatsräson wurde erstmals 2008 von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Knesset erklärt, wo sie verkündete, dass die Sicherheit Israels Teil der Kernidentität Deutschlands sei. Doch die Interpretationen dieses Begriffs sind unterschiedlich: Einige sehen darin ein Bekenntnis zu einem demokratischen, friedlichen Staat Israel innerhalb international anerkannter Grenzen; aber kürzlich scheint das vorherrschende Verständnis der gewählten deutschen Führung völlig und bedingungslose Unterstützung Israels zuzuordnen, unabhängig von seiner Behandlung der Palästinenser oder seiner Haltung im Nahen Osten.

 

Seit dem 7. Oktober und Israels Krieg gegen Gaza positioniert sich Deutschland unmissverständlich auf israelischer Seite, versorgt es mit Waffen und verteidigt es in internationalen Foren – und beruft sich dabei Staatsräson als Rechtfertigung. Während Rufe nach einem Waffenstillstand aus Berlin zu hören waren, wurde die Militärhilfe für Israel unvermindert fortgesetzt.

In einer grausamen historischen Wendung hat Deutschland, der Täter des Holocaust, ermöglicht, was zahlreiche Beobachter, einschließlich Amnesty International, als Völkermord an Palästinensern identifiziert haben. Anstatt eine universelle historische Lektion zu lernen, die für alle Menschen gilt, wählte Deutschland eine partikularistische Interpretation seiner Geschichte, die sich auf die Beziehung des Staates zu Israel konzentriert.

Die jüngste Abschiebungsanordnung deutet auf eine dramatische Eskalation des Einflusses von Staatsräson hin, die nun über die Außenpolitik hinausgeht. Zum Beispiel schlägt eine umstrittene Klausel in einem Entwurf des Koalitionsvertrags vor, der letzten Monat durchgesickert ist, Doppelstaatsangehörigen der deutschen Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn sich herausstellt, dass sie "Anhänger des Terrorismus, Antisemiten oder Extremisten sind, die die freie demokratische Ordnung gefährden".

Abgesehen von der Verstärkung einer doppelten Staatsbürgerschaftsstruktur befürchten viele ein verstärktes Vorgehen gegen pro-palästinensischen Aktivismus in Deutschland. Der öffentliche Diskurs verwechselt regelmäßig Antizionismus oder gar klare Kritik an Israel mit Antisemitismus. So war die BDS-Bewegung 2019 vom Deutschen Bundestag mit Antisemitismus verbunden. Diese Vorschläge wirken sich abschreckend auf Protest und Meinungsverschiedenheiten aus.

Menschen nehmen an einem Protest zur Unterstützung der Palästinenser anlässlich des jährlichen al-Quds-Tages in Berlin teil Credit: Christian Mang / Reuters

Doch dieses erweiterte Mandat des blinden Staatsräson ist bereits zu spüren, auch ohne die Gesetzesvorschlag. Vielleicht am bezeichnendsten war, dass Deutschland, einst ein Hauptunterstützer des Internationalen Strafgerichtshofs, klarstellte, dass es keinen IStGH-Haftbefehl gegen Premierminister Benjamin Netanyahu durchsetzen würde.

Deutschland ist eine funktionierende Demokratie mit einem robusten Rechtssystem, aber die Erstickung von Protest und Dissens ist erschreckend. Grundlegende Kritik an Israel, wie die Verwendung des Namens Apartheid, um es zu beschreiben, wird als Untergrabung einer verfassungsmäßigen Ordnung angesehen und ist in vielen staatlich finanzierten Kultur- und Bildungseinrichtungen Deutschlands inakzeptabel. Dies spiegelt die autoritäre Rückfälle wider, die in den USA andauert, wo die Trump-Regierung auch unerbittlich die Bürgerrechte angreift, auch unter dem Vorwand, jüdische Leben zu schützen und Antisemitismus zu bekämpfen.

Deutschland ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und eine führende Kraft in der Europäischen Union. Sie ist seit Jahrzehnten zum Fahnenträger der liberalen Demokratie, des Völkerrechts und der Menschenrechte. Angesichts des zunehmenden autoritären Drifts, die aus dem Weißen Haus geführt wird, könnte Deutschland eine bedeutende Gegenkraft sein, die die freien demokratischen Freiheiten bewahrt.

Demonstranten rufen Slogan bei einem Protest in München Credit: Ebrahim Noroozi, AP

Aber stattdessen reagierte das deutsche Außenministerium auf den Trump-Netanyahu-Plan für Gazas "Freiheitszone", einen Spitznamen für die ethnische Säuberung des Gazastreifens unter dem Deckmantel des "freiwilligen Abgangs", indem es das Offensichtliche erklärte: dass es ein Verstoß gegen das Völkerrecht sei. Doch Deutschland hat sich nicht den Hals ausgestreckt oder versucht, Israel für seine Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen. Sie hat Israel ebenfalls weitgehend ignoriert, der den Waffenstillstand entgleist, der die Wiederbesetzung großer Teile des Gazastreifens und die Rückkehr zur täglichen Massentötung von Zivilisten ausgelöst hat. All dies könnte entschuldigt werden, wenn man sagt, dass dies eine Übergangszeit zwischen den deutschen Regierungen ist, aber der Koalitionsvertrag gibt keine Hoffnung auf Veränderung.

Indem es die Menschenrechtsverletzungen Israels nicht bekämpft und den Kampf gegen den Antisemitismus als Deckmantel für die Schrumpfung seines eigenen demokratischen Raums nutzt, weiß es Staatsräson. Tatsächlich wird das, was einst ein Ausdruck des deutschen Engagements für die Opfer des Holocaust war, jetzt verwendet, um Israels expansionistischen Militarismus und systematischen Verbrechen in Gaza zu unterstützen.

Solange Israel weiterhin Gaza zerstört, sollte Staatsräson zumindest begrenzt, wenn nicht auf Eis gelegt werden.

Nimrod Flaschenberg ist Mitgründer der Berliner Gruppe Israelis for Peace. Früher arbeitete er als politischer Berater und Aktivist für Hadash.

Russland

UNO: Israel kontrolliert fast 70 Prozent des Gazastreifens

Eineinhalb Jahre nach Beginn des Gaza-Kriegs stehen rund zwei Drittel des Gazastreifens unter Israels Evakuierungsbefehl oder werden von der israelischen Armee als Sperrzone betrachtet. Das gelte für fast 70 Prozent des Gazastreifens, schrieb UNO-Generalsekretär Antonio Guterres auf der Plattform X. Er sei „sehr besorgt, da die (humanitäre) Hilfe weiterhin blockiert wird, mit verheerenden Folgen“.

Der israelische Verteidigungsminister Israel Katz hatte Anfang des Monats angekündigt, die Armee werde große Gebiete im Gazastreifen erobern. Sie sollen als israelisch kontrollierte „Sicherheitszonen“ dienen. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu drohte der Hamas gestern mit neuen Schlägen.

Hunderttausende vertrieben

Nach UNO-Angaben wurden allein zwischen dem 18. März und dem 8. April fast 400.000 Palästinenser und Palästinenserinnen innerhalb des Küstenstreifens vertrieben. Laut UNO-Menschenrechtsbüro werden die Menschen in immer kleiner werdende Gebiete gedrängt, in denen sie kaum oder gar keinen Zugang zu Wasser, Nahrung und Unterkünften hätten.

Die US-Regierung erwägt angeblich drastische Einschnitte bei ihrer Außenpolitik. Wie US-Medien berichteten, könnten fast 50 Prozent der Mittel im US-Außenministerium wegfallen, darunter nahezu alle Gelder für internationale Organisationen wie UNO und NATO. Auch US-Botschaften und Konsulate in Deutschland, Frankreich, Italien und Schottland stehen offenbar auf dem Prüfstand.

Die „New York Times“ und die „Washington Post“ berichteten unter Berufung auf interne Dokumente des Außenministeriums, für das Budgetjahr 2026 (ab 1. Oktober) sei ein Budget von 28,4 Milliarden Dollar (rund 25,2 Mrd. Euro) im Gespräch, das wären 26 Milliarden Dollar oder 48 Prozent weniger als im Budgetjahr 2025.

Friedensmissionen betroffen

Das Vorhaben könnte sich den Berichten zufolge auch auf internationale Friedenssicherungsmissionen und Bildungsinitiativen auswirken. Betroffen wäre etwa das Fulbright-Stipendium, eines der prestigeträchtigsten US-Förderprogramme, hieß es.

Der US-Diplomatenverband AFSA kritisierte die Vorschläge als „gefährlich“. Außenministeriumssprecherin Tammy Bruce sagte, die Pläne seien nicht abschließend abgestimmt.

Washington ist der größte Beitragszahler der Vereinten Nationen, noch vor China. Etwa 22 Prozent des regulären UNO-Kernhaushalts in Höhe von 3,7 Milliarden Dollar sowie 27 Prozent des Budgets für friedenserhaltende Maßnahmen von 5,6 Milliarden Dollar kommen aus den USA. Die UNO finanziert neun Friedensmissionen, die laut Reuters direkt betroffen sein könnten, darunter im Kosovo, auf den Golanhöhen, in Mali und im Libanon.

red, ORF.at/Agenturen