Sonnabend, den 14. November

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Nur
ein Bett
und der Raum
Nossendorf mit der Welt zu verbinden

Kunstschnee von morgen
Nossendorf - Paris - Berlin: Eine Installation von Hans-Jürgen Syberberg im
Centre Pompidou

PARIS, im Mai

Das Binnenecho zwischen Hans-Jürgen Syberbergs Filmen beruht auf der enormen
Resonanzfähigkeit seines ausufernden Ich. Hitler, Karl May, Ludwig II. von
Bayern, Parsifal und Penthesilea, Deutschland und das klassizistische
Preussen verschmelzen alle im Gesamtklang einer subjektiven Geschichtsvision,
die in den siebziger und achtziger Jahren ein originelles Sonderkapitel des
neuen deutschen Kinos darstellte und in Frankreich auf besonders grosses
Interesse stiess.

Seither ist der Autor in den engeren Wirkungskreis der Kenner und Liebhaber
abgetaucht, hat seine Auftritte ins weitläufige Reich www.syberberg.de
verlegt und sich neuerdings zugleich der Wiederbelebung seines Geburtshauses
von Nossendorf in Pommern angenommen. Paris, wo der Autor seit fünfzehn
Jahren nicht mehr präsent war, hat ihm im Centre Pompidou nun aber eine
Installation und eine Retrospektive mit einer begleitenden Buchedition unter
dem Titel "Syberberg/Paris/Nossendorf" (Verlag Centre Pompidou/Yellow Now)
eingerichtet. Und der Künstler nutzt die Gelegenheit, die synergetische
Wirkung seines OEuvres noch einen Schritt weiter zu treiben.

Die Wiederkehr seiner Filmprotagonisten in den Folgefilmen ist bekannt. In
der Albtraumszene von "Ludwig" treten Hitler, Karl May oder die Reminiszenz
Richard Wagners auf. Diesmal lässt Syberberg nun die Filme selbst einander
begegnen. In einem Projektionsraum der Pariser Ausstellung laufen auf vier
Leinwänden speziell geschnittene Auszugssequenzen aus jeweils vier Filmen
gleichzeitig ab und lassen, je nach Blickrichtung des Zuschauers, Text und
Kontext sich endlos neu profilieren - als könnte das Gesamtkunstwerk nie
"gesamt" genug sein.

Dabei hat das romantisch anmutende Streben nach Wahrnehmungstotalität mit
den Mitteln der Technik sein eigentliches Element mittlerweile anderswo
gefunden: im Medium der elektronischen Bilderallgegenwart, die Syberberg in
den letzten Jahren für sich entdeckte. Das Flimmernde, das real Entferntes
über Tastaturen und Webcams einander näher bringt, ist für diesen Autor
jedoch nicht Realitätsersatz, sondern Vorstellungshilfe und
Realitätsgarantie. So jedenfalls ist wohl die scheinbare Spielerei der
Pariser Ausstellung zu verstehen, die während der gesamten Dauer der
Ausstellung über Web-Kameras Bilder aus Nossendorf in Realzeit nach Paris
und Pariser Ausstellungsbilder nach Nossendorf sendet und beide Bildquellen
zugleich im Foyer des Berliner Hebbel-Theaters zusammenlaufen lässt.

Syberbergs Filme, so monumental sie sein mögen, haben stets Skizzen-, nicht
realistischen Abbildcharakter. Das war schon aus den als Bildkulissen sich
ausgebenden Kulissen zu ersehen. Dieses Prinzip wird nun mit der Elektronik
in der Ausstellung weitergeführt. Die ganze Mythologisierung von Nossendorf
wirkt in Paris um so ferner, je präsenter die Webcam-Bilder von Gutshof und
Umland im Zwanzigsekundenwechsel auf der Leinwand erscheinen. Das verlorene,
wiedergefundene Geburtshaus: eine Ahnung erfüllter Existenz, rückseitig aus
der TotalitŠt des Nichts gelesen.

Das in Paris massstabgerecht nachgebaute Eddzimmer von Nossendorf ist ein
Gehäuse aus leeren Stoffbahnen mit ein paar bleistiftgestrichelten
Stuckelementen und einem Fensterausblick auf eine Videobildlandschaft
Vorpommerns. "Vielleicht eben aus dieser absoluten Totalität des Nichts nach
altem preussischem Ursprung gerade jetzt heute etwas nochmals versuchen",
notiert Syberberg dazu in seinem Internettagebuch und träumt davon, mit der
Technik unserer Zeit als Ernte seines Lebens in europŠischen Dimensionen
"das Entstandene hinauszusenden".

Das "Entstandene" - "es existiert, mit all seinen Macken, und so wenige
Dinge existieren", schrieb einst der melancholische Dreyfus-Anhänger Daniel
HalŽvy - unerschrocken hinauszusenden in seiner ganzen Verstrickung von
Katastrophe und Grandiosität: Darin lag stets das Genie des deutschen
Filmskizzenkünstlers Syberberg, der in Paris mit grossem Publikumszulauf seit
dem Eröffnungsabend aufs neue zu entdecken ist. Die Retrospektive zeigt
Werke von den frühen dokumentarischen Arbeiten zu Brecht und Fritz Kortner
über die grossen Kinofilme und die Aufnahmen mit Edith Clever bis hin zur
Aufzeichnung von Einar Schleefs Nietzsche-Lesung "Schleef-Nietzsche-Ecce
Homo" aus dem Jahr 2000.

Wie kompromisslos der Autor Syberberg auch im neuen Medium Internet der
Bildrealität gegenüber dem realistischen Abbild den Vorzug gibt, zeigt in
Paris ein Detail, das dieser gleichsam ihr Qualitätssiegel aufdrückt. Der
Fluss rundgeschalteter Bildschirmnavigation auf www.syberberg.de scheint in
den meterlangen ausgedruckten, zusammengeleimten und an die Ausstellungswand
gehefteten Papierbahnen plötzlich zu alten Zettelkastenrelikten erstarrt.

Sie haben denselben Exponatstatus wie die drei Sack aus Nossendorf
angekarrte Erde, die im Lichthof des Centre Pompidou in der Mitte des
Projektionssaals stehen: nicht einfach Reliquien einer Privatmythologie,
sondern Pfandstücke einer genialen Geschichtsphantasie, wie einst der
Miniaturnachbau von Karl Mays Geburtsort unterm künstlichen Studioschnee,
die Studiokulissen Ludwigs und Hitlers, Wagners Maskenbühne im "Parsifal" es
waren, oder wie die aus der Erinnerung miniaturhaft rekonstruierte
Topographie Nossendorfs unter der Glasglocke in der Pariser Ausstellung es
ist. Dass diese Selbstprojektionen Syberbergs auch von fremder Geschichte
bevölkert werden können, hat diesem Autor einst in Frankreich besondere
Aufmerksamkeit verschafft. Sie kšnnte nach dieser Veranstaltung bald neu
aufleben.

JOSEPH HANIMANN

Die Ausstellung ist im Centre Pompidou bis zum 9. Juni zu sehen, das
Begleitbuch kostet 18 Euro.

Syberbergs virtuelle WahrnehmungstotalitŠt: mit der Webcam von Nossendorf
nach Paris und zurück.

Fotos Centre Pompidou/Syberberg

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung 15. Mai 2003

was in Paris damals begann
auf der Kern gebracht
Damals schrieb derselbe J.H.
der heute zu dem grossen Staats-Auftritt des Anselm Kiefer in Paris sich äussert(>), zum Nossendorf des Anfangs, in Nuce. Folgendes:

mit den Kerzen aus Paris vom Flohmarkt anl. des Ludwig-Films als Beginn 1973