Zugeschickt von H. Harzheim
 
  DIONYSISCHE MELANCHOLIE ....
  
 
 
   .... oder Ein Gral namens Amélie
 
  Wer nach dem Beispiel Saul Friedländers die mythologisierende Trauerarbeit Hans Jürgen Syberbergs als Exorzismus bezeichnet, erfasst damit sehr plastisch das zwiespältige Image dieses Regisseurs. Verfügen Exorzisten doch über eine eigene Dämonie, lässt der ständige Kontakt mit dem Teufel auch sie selbst suspekt werden. Im Falle Syberbergs lautet die deutsche Frage schon seit 20 Jahren: Trägt er einen rechtsextremen Teufel in sich oder nicht? Diese Furcht liegt jedoch weniger in den Filmen als in den schriftlichen und mündlichen Äußerungen des Regisseurs begründet. Schließlich sprechen die Bilder und die Atmosphäre seiner Zelluloid- und Videostreifen eine ganz andere Sprache als besagte, oft genug polemisch intendierten Worte.
Wenn nämlich die Verdrängung der Frau oder des Weiblichen maßgeblicher und notwendiger Bestandteil des Faschismus sein sollte (1), dann repräsentiert Syberbergs Kino dessen Gegenpol. Verleiht es dem Weiblichen doch eine mythologische Qualität und zentrale Position wie sie im deutschen Film einzigartig sein dürfte. 
Jetzt mag mancher an Edith Clever denken, jene ehemalige Diva der Berliner „Schaubühne", die Syberberg ehrfürchtig als „Callas" bezeichnet hat. Die betrat 1982 als Kundry den Syberberg-Kosmos, als der sich drannmachte Richard Wagners' „Parsifal" zu verfilmen. Kundry, das ist laut Wagner ein „weiblicher Ahasver", seit zweitausend Jahren zur rastlosen Wanderschaft verflucht. Wieviel Last von generationsübergreifender Enttäuschung trägt sie, wieviel Verlust betrauert man in so langer Zeit? Wieviel Müdigkeit provoziert ein Leben, das nicht enden will? 
1986 spielte Edith Clever erneut eine Art Kundry, nimmt das Publikum mit auf eine sechsstündige Reise in „Die Nacht", einem gigantischen Monolog, montiert aus literarischen Texten des Abendlandes, von Aischylos bis Gegenwart. Keine Story mehr, wie noch im „Parsifal"-Film, nicht mal einen Rollennamen trägt ihre Figur. 2500 Jahre Kulturgeschichte, verkörpert von einer ins Mythische stilisierten Namenlosen. Von Syberberg zuerst als Bühneninszenierung produziert, danach ungekürzt auf Film gebannt. Es folgte in den nächsten Jahren längeres, wieder monologisches Verweilen bei einzelnen Vertretern dieser Kulturgeschichte. Clever sprach Texte von Kleist, Hölderlin und Joyce - und Syberberg schnitt auf Video mit. Der Wechsel von 35 mm auf Video wurde nötig, als in postcineastischen Zeiten kein Geld mehr für seine Filme zur Verfügung stand (Kollegen wie Godard und Greenawy sollten ihm bald folgen...) Kurzum, Edith Clever verkörpert darin eine Art Gaya, das Urweib, die Urmutter der Geschichte. 
Aber vor der Mutter kam die Tochter! 
Sie kam vor ihr und steht über ihr...Dargestellt von Amélie Syberberg, Tochter des Regisseurs und mythische Ikone in dessen Filmen „Hitler, ein Film aus Deutschland" (1978) und „Parsifal" (1982). 
„ Hitler, ein Film aus Deutschland" erzählt die deutsche Tragödie der vergangenen 150 Jahre als Mythos mithilfe der Collage. Hitler samt Vor- und Nachgeschichte werden nicht analysiert, sondern zum (Avantgarde-) Film erklärt. Zu Beginn, am Anfang der Welt steht ein Filmstudio, vollgestopft mit Figurinen von Wagner und seinen Opernhelden, von Ludwig II und  weiteren Vertretern des durch Hitler korrumpierten Kulturerbes, dem Syberbergs ganze Nostalgie gilt. Darunter: Ein Mädchen (Amélie Syberberg), nicht mal zehn  Jahre alt, in schwarzer Trauerkleidung und grauem Haar, vielleicht Hel, die junge Göttin der Totenwelt Niflheim. In ihrem Arm hält sie ein Stofftier, einen Plüschhund mit Hitlergesicht. Sie trägt ihn durch den Kosmos, vorbei an den wagnerischen Schicksalsnornen, den Verkünderinnen der „Götterdämmerung", vorbei an dem riesigen Zirkelblitz des schrecklichen Schöpfergottes Urizen  - und gelangt endlich ins Kabinett des Doktor Caligari, wo sie ihren todbringenden Schützling in eine Krippe legt. Der schwarze Messias ist gekommen und er wird die Erde in Schutt und Asche brennen. Sie ist eine düstere Madonna, noch ein Kind, für das alles Spielzeug ist. Wer ist dieses geheimnisvolle Mädchen, für das die dämonische Weltgeschichte nur Spielzimmer und Puppenstube darstellt? Wir werden ihr im Lauf des 7stündigen Films wieder begegnen.
Wenn sie z.B. einer Ludwig II.-Puppe die schrecklichen Auswirkungen der von ihm protegierten Traumkunst zeigt: Die Künstlerschicksale nach 1933.
Im Finale des letzten Teils, der den Titel „Wir Kinder der Hölle" (erinnern uns an das Zeitalter des Grals) trägt, schreitet sie - wieder in einem schwarzen Kleid und mit Zelluloid umwickeltem Haupt - zurück zur Krippe mit dem Hitlerhund. Bis dahin hatte der Film weit ausholend den Mythos Hitlers erzählt, jetzt nimmt ihn das Mädchen wieder zu sich. Es erscheint die „Black Mary", das erste Filmstudio der Welt. Der Mythos Hitlers und der des Films verschmelzen zu einem einzigen. Zuletzt stellt das Mädchen in der großen Träne - die zu Anfang die Tränen des um sein Werk betrogenen Erich v. Stroheim repräsentierte und jetzt für die Trauer nach dem Inferno steht - eine berühmte Pose Mary Pickfords nach, die sehnsüchtig den nächtlichen Sternenhimmel betrachtet, die Hände wie zum Gebet gefaltet. Mary Pickford, die kindliche Göttin aus den frühen Jahren des Films. Erneut schließt sie die Augen und hält sich die Ohren zu, verschließt sich endgültig gegenüber Geschichte und Welt(enraum). Nochmal: Wer ist das Mädchen inmitten dieser seltsamen Kosmogonie? Sie, die inmitten der stundenlangen Monologe kein einziges Wort gesprochen hat und die Augen oft - wie in Trance - geschlossen hielt? Ihr Schweigen ist nicht nur geheimnisvoll, sondern symbolisiert, passend zur Musik, den deutschen Dionysos, d.h. eine Maßlosigkeit an Melancholie. Im Gegensatz zum griechischen, der ein Überschuß an Lebenskraft repräsentiert. Jene Maßlosigkeit an Melancholie, die wir aus Wagners' „Parsifal"-Sound heraushören können. Oder aus der Musik Beethovens. Klänge über das heimliche Glück der Traurigkeit, in die ihre Auftritte gehüllt sind. 
Ist dieses Mädchen wirklich nur ein Kind, "das durch diese Welt ging" (Syberberg), eine kleine Kundry, die sich an ein untergegangenes Zeitalter erinnert? Nein, im nächsten Film, „Parsifal", stellt sich heraus, dass sie selbst der Gral ist!
Hatte „Hitler, Ein Film aus Deutschland" das Schicksal dieses Landes als experimentelle Wagner-Film-Oper dargestellt, so wird in der Adaption des „Parsifal" - quasi umgekehrt - das mythische Musikdrama auf die deutsche Geschichte, die auch seine Wirkungsgeschichte ist, projiziert. Syberberg vergrößert Wagners' Totenmaske ins Riesenhafte und macht sie zum Schauplatz der Handlung, belegt Requisiten und Kostüm mit Zitaten aus der Historie. Welche assoziative Umsetzung findet so ein Film für den Gral, einem Kelch mit dem Blut Christi? - Er zeigt ihn als Mädchen mit Umhang, auf den eine alte Abendmahls-Darstellung projiziert wird. Mit müden Augen steht es da, umweht von der ekstatischen Musik, schweigend die „Stimme aus der Höhe" repräsentierend. Gott, der Weltengrund, nicht als Vater oder Mutter, sondern als Tochter. Hatte Shakespeare in „The Winter´s Tale" oder „The Tempest"die Tochter als Utopie der Versöhnung präsentiert, so ist sie hier die schlafende Weltseele, jenseits von Gut und Böse, als eine Danielle Sarréra aus Deutschland. Auf sie das Abendmahl zu projizieren, verrät den fundamentalen Irrtum der Gralsritter: Die Verwechslung der Tochter mit dem Blutkult um den gekreuzigten Sohn. Eine Verkennung des Welten- und Seelengrundes gleichermaßen (die laut Schelling identisch sind). Syberberg schrieb später, dass Mädchen in die Pose der Synagogen-Allegorie des Strasburger Münsters gestellt zu haben. Die jüdische Synagoge, auf die man den christlichen Grals- und Abendmahlsmythos projiziert. So zeigt die Szene noch eine weitere Ignoranz gegenüber dem Ursprung. Also nicht nur in metaphysischer, sondern auch in geschichtlicher Hinsicht. Wundert es bei so viel Verdrängung der eigenen Seele, das die Gralsritterschaft sich im Siechtum befindet?
Im Schlußbild, bei der finalen Gralsenthüllung sieht man sie noch einmal, wie sie schweigend den inzwischen „vereisten Gralstempel am Ende der Welt" betritt. Hat man sie noch rechtzeitig wiederentdeckt oder kommt sie bereits zu spät (zurück)? Der Film gibt keine eindeutige Antwort.
Es ist selten, dass Künstler „die Tochter" als Archetypen präsentieren. Shakespeare, Joyce und Hafiz fallen ein. Bereits für letzteren ist sie der dionysisch-göttliche Part der Seele, wild und rasend. Aber nirgendwo erhielt sie einen derart weltzentrierenden Part wie in den beiden Werken Hans Jürgen Syberbergs. 
Abgesehen von den Auftritten in den oben skizzierten Filmen scheint Amélie Syberberg (geb. 1968) in keinem weiteren Film gespielt zu haben. Stattdessen war sie in den letzten Jahren als Produktionsassistentin für Filme wie "Anatomie 2" tätig. Syberberg, in Bezug auf sein Privatleben wenig exhibitionistisch, erwähnt sie in seinem Buch „Der Wald steht schwarz und schweiget" einige Male. Zum Beispiel, dass er sich einmal nach der Schule mit ihr getroffen habe. Nur einzelne, belanglose Sätze, ohne Nennung des Namens. Der Mythos ihrer Filmfigur passt hervorragend zur Anonymität des Alltags. 
Hans Jürgen Syberberg hat - wie viele Kollegen seiner Generation - das Kino inzwischen aufgegeben und sich dem Internet zugewandt. Darin setzt sich für ihn der Film fort. Nach dem Mauerfall 1989 kaufte er in Nossendorf (Pommern) das Gutshaus zurück, in dem er 1935 zur Welt kam. Dessen Umgestaltung zur „Black Mary", zum Museum für kulturelle Verluste, ist via Webcam und eingescanter Fotos im Netz nachvollziehbar (www.syberberg.de). In diesem Alterswerk kehrt er wieder und noch konsequenter zu den Anfängen des Films zurück: In den Guckkästen der Computerbildschirme führt er - in der Totale gedrehte - digitale Filmschleifen vor. Gezeigt wird ein virtuelles Preussen, das er nachträglich vor der Zerstörung durch Hitler bewahren will. Dazu gehört auch die Renovierung der Nossendorfer Dorfkirche. Ein zerfallener Gralstempel am Ende der Welt. Dieses Dorf ist Syberbergs Filmkulisse, in der seine Erzählungen ihren letzten Platz finden. Die Menschen auf den Fotos, Syberbegs selbst, Arbeiter, Gäste usw. haben keine mythologischen Rollen mehr. Auch Amélie Syberberg nicht. Fotos von ihr, auf mancher Tagebuchseite erkennbar, sind privater Natur. Der mythologische Mehrwert, den sie im Betrachter auslösen, liegt in der Assoziation zu den beiden früheren Filmen begründet. Serezawa
 
 
(1) So die These von Autoren wie Klaus Theweleit oder Nicolaus Sombart.