23. Februar 2004 <Gast>
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Sibel Kekilli: "Vielleicht auch eine Art Rebellion"
Die Wahrheit über Sibel Kekilli
Berlinale: Goldener Bär für „Gegen die Wand“
Sibel Kekilli im Interview
Es ist mein Leben
23. Februar 2004 Das erste Gespräch mit der Berlinale-Gewinnerin
Sibel Kekilli.
Am Samstag waren Sie die strahlende Berlinale-Gewinnerin, zwei Tage später
als geouteter "Porno-Star" auf der Titelseite der "Bild"-Zeitung.
Seither ist kein Tag vergangen, ohne daß diese Zeitung über Sie
berichtet hätte. "Eltern verstoßen sündige Film-Diva", "Uschi
Glas steht sündiger Filmdiva mutig bei" - das Neueste ist, daß Sie
heimlich verheiratet sind. Frau Kekilli, wie geht es Ihnen? Ich wundere mich
selber, aber es geht mir eigentlich ganz gut.
Sie wohnen derzeit an einem geheimen Ort. Dieter Kosslick hat Ihnen den berühmtesten
Medienanwalt des Landes besorgt. Das klingt selbst schon fast wie ein Film.
Ich möchte nicht fotografiert werden, wenn ich aus der Wohnung gehe
und den Müll rausbringe. Ich will auch nicht, daß meine Nachbarn
da mit hineingezogen werden, deshalb bin ich erst mal woanders untergebracht.
Wird Ihre Wohnung von Reportern belagert?
Es steht sogar ein Ü-Wagen vor meiner Tür.
"
Gegen die Wand" ist Ihr erster Kinofilm. Kameraerfahrung hatten Sie
bereits: Sie haben in mehreren Hardcore-Pornofilmen mitgespielt. Hatten Sie
denn nicht damit gerechnet, daß Ihre Vergangenheit bekanntwerden würde?
Natürlich habe ich damit gerechnet, aber daß "Bild" so
eine große Sache draus macht, daß sie es auf die Titelseite nehmen,
so riesig, so schmutzig, das hätte ich nicht gedacht.
Warum haben Sie Pornofilme gedreht?
Aus Geldmangel. Ich hatte immer mehrere Jobs - ich habe zum Beispiel Obst
und Gemüse verkauft, gekellnert, als Türsteherin gearbeitet, ich
war sogar mal für einen Monat Geschäftsführerin eines Nachtclubs
- es war wirklich so, wie es immer heißt: ich war jung und brauchte
Geld. Und daß ich diese Filme gemacht habe, das war vielleicht auch
eine Art Rebellion.
Eine Rebellion gegen was?
Ich wollte mir damit vielleicht selber beweisen, daß ich mein eigenes
Leben leben kann, wie ich will.
Für Eltern ist es wohl immer ein Schock zu erfahren, daß die eigene
Tochter Pornos dreht - für türkische Eltern um so mehr.
Klar. Ich kann nur für mich sprechen: Ich habe einen ziemlich starken
Freiheitsdrang, und je mehr man versucht, mir etwas zu verbieten, desto mehr
rebelliere ich.
Ihre Eltern sind in den siebziger Jahren aus der Türkei nach Heilbronn
gezogen. Wenn es nach ihnen gegangen wäre - wo wären Sie heute?
Erst einmal möchte ich sagen, daß meine Eltern ziemlich modern
und offen sind. Aber insgesamt wären sie wahrscheinlich ganz froh, wenn
ich weiterhin im Heilbronner Rathaus als Verwaltungsfachangestellte arbeiten
würde, vielleicht verheiratet mit einem türkischen Mann.
Die "Bild"-Zeitung hat Ihren Vater befragt - es sei eine Schmach
für die Familie, und er wolle Sie nie wieder sehen, sagte er. Hat er
erst jetzt erfahren, daß Sie in Pornofilmen gespielt haben?
Ich habe es ihm vorher nicht gesagt.
Es war zu lesen, daß Ihre Familie Sie nun verstoßen hat.
Ich kann meine Eltern verstehen. Es tut mir unendlich leid, daß sie
es so erfahren haben, aber ich werde mich für meine Vergangenheit, für
mein Leben bei niemandem entschuldigen. Ich habe niemandem weh getan, ich
habe nichts Illegales getan, ich habe keinem Menschen geschadet - außer
mir selber, wenn überhaupt. Meine Eltern schämen sich jetzt wahrscheinlich
für mich. Sie denken wahrscheinlich, die Leute zeigen mit den Fingern
auf sie und sie können niemandem mehr in die Augen gucken. Das tut mir
wirklich leid, aber es ist nun mal passiert, und ich kann und ich möchte
es nicht ändern. Und ich bin darüber auch niemandem eine Rechenschaft
schuldig. Jeder Mensch hat eine Vergangenheit, ich bin 23, meine Vergangenheit
war vielleicht etwas heftiger, aber so ist das nun mal, und ich kann es auch
nicht auslöschen, es gehört zu mir.
Haben Sie Kontakt zu Ihren Eltern?
Nein.
Hatten Sie vor der "Bild"-Zeitungskampagne Kontakt?
Natürlich. Meine Eltern wußten auch, daß ich in "Gegen
die Wand" spiele. Wie gesagt, sie sind ziemlich offen, aber die Sache
mit den Pornos war zu hart für sie.
Auf der Berlinale wurden Sie als Schauspieldebütantin gefeiert. Die
Boulevardpresse scheint sich da von Ihnen getäuscht zu fühlen.
Aber es stimmt: "Gegen die Wand" ist mein Schauspieldebüt!
Was hat denn Pornographie mit Schauspielerei zu tun? Was hat, Entschuldigung,
Ficken mit einer Charakterrolle zu tun? Hätte ich mich bei der Berlinale
hinstellen sollen und ungefragt sagen, Leute, ich weiß ja nicht, wen
es interessiert, aber ich habe mal Pornos gedreht?
Regisseur und Produzenten wußten davon?
Natürlich. Ich habe ihnen gleich gesagt, hört mal, so sah mein
Leben bisher aus. Einfach, um fair gegenüber den Menschen zu sein, mit
denen ich arbeite. Aber ich bin nicht dazu gezwungen, das öffentlich
zu machen. Es ist meine Vergangenheit. Und es ist: Vergangenheit.
Gab es Überlegungen mit den Produzenten, wie man mit dem Thema umgeht,
ob man damit vielleicht offensiv an die Öffentlichkeit geht?
Die Produzenten von Wüste Film, der Regisseur Fatih Akin und ich haben
beschlossen, meine Geschichte nicht nach außen zu tragen.
"
Gegen die Wand" erzählt die Geschichte von Sibel, einer jungen
Türkin in Hamburg, die zum Schein einen Türken heiratet, um ihre
Familie zufriedenzustellen und dann heimlich zu tun und zu lassen, was sie
will. Ist so etwas denkbar?
Natürlich gibt es das, und ich kann gut verstehen, daß manche
Mädchen einen Weg wählen, der nicht ganz so hart ist, daß sie
sagen, ich mache was ich will, aber eben heimlich. Für mich käme
es nicht in Frage, einen Menschen zu heiraten, den ich nicht liebe.
Um auch das vielleicht gleich zu klären: Was hat es mit der neuesten
Enthüllung der "Bild"-Zeitung auf sich, Sie verschweigen,
daß Sie verheiratet sind?
Das stimmt nicht, aber ich wollte vor fünf Jahren meinen damaligen deutschen
Freund heiraten. Das Aufgebot stand, wir hatten sogar ein großes Fest.
Die Trauung verzögerte sich aber, weil es Schwierigkeiten mit meinen
Papieren aus der Türkei gab, und schließlich heirateten wir nicht.
Jeden Tag wird etwas Neues über Sie ausgegraben, vielleicht einfach
mal der Reihe nach: Sie sind 1980 in Heilbronn geboren. Was machen Ihre Eltern?
Mein Vater ist Arbeiter, meine Mutter Putzfrau.
Sie haben in Heilbronn die Schule besucht, was für einen Abschluß haben
Sie?
Mittlere Reife.
Danach haben Sie im Rathaus gearbeitet.
Als Verwaltungsfachangestellte
Zuständig für den Müll.
Das stimmt.
Und irgendwie dachten Sie, das kann es doch nicht sein, ich kann doch nicht
mein Leben lang in Heilbronn versauern?
Ja, ich wollte da nicht kleben bleiben, es war mir irgendwie zu spießig,
zu klein. Nach zwei Jahren habe ich meinen Job gekündigt und bin nach
Essen gezogen. Und eines Tages wurde ich zufällig beim Einkaufen angesprochen,
ob ich vorsprechen würde für die Hauptrolle im neuen Film von Fatih
Akin.
Jetzt überspringen wir aber die Pornofilme. Die hatten Sie da schon
gedreht?
Die habe ich während meiner Zeit am Rathaus gedreht. Als ich für "Gegen
die Wand" angesprochen wurde, war das mit den Pornodrehs aber schon
vorbei.
Und Sie sind zufällig angesprochen worden, auf der Straße, einfach
so?
Ich war in Köln beim Einkaufen, und eine Frau sprach mich an, daß sie
für die Hauptrolle im neuen Film von Fatih Akin eine junge Türkin
suchen würden. Die haben in ganz Deutschland gecastet. Ich hatte noch
nie von Fatih Akin gehört.
Aber da war sie endlich, die Chance auf ein anderes, ein schöneres Leben?
In "Gegen die Wand" gibt es einen Satz, der stimmt für mich
total: "Wenn Sie Ihr Leben beenden wollen, dann beenden Sie doch Ihr
Leben, aber dafür müssen Sie doch nicht sterben." Ich habe
meine Vergangenheit beendet, ohne daß ich mich umgebracht habe. Ich
habe ein anderes Leben angefangen.
Als Sie das Drehbuch zu "Gegen die Wand" gelesen haben, haben Sie
sich darin wiedererkannt?
Natürlich. Es geht um den Konflikt zwischen der zweiten und dritten
Generation von Türken in Deutschland, zwischen Eltern und ihren Töchtern.
Die Familie des Mädchens ist nicht radikal muslimisch eingestellt -
es darf Make-up tragen, ohne Kopftuch herumlaufen, es hat sogar einen Beruf
erlernen dürfen -, aber das reicht dem Mädchen nicht. Sie sieht
ja, wie die deutschen Mädchen leben, und das will sie auch. Es geht
um Freiheit. Und darum, daß es dann doch nicht alles ist, wenn man
sich diese Freiheit erkämpft hat.
Sie sind hier geboren und aufgewachsen, als was fühlen Sie sich?
Ich weiß es selber nicht. Dem Paß nach bin ich deutsch. Ich habe,
wie ja jetzt jeder weiß, bisher ein durch und durch deutsches Leben
geführt. Ich fühle mich schon als Deutsche - aber mit türkischen
Wurzeln.
Am Donnerstag hatte die "Bild"-Zeitung junge Türkinnen nach
ihrer Meinung zum "Fall Kekilli" befragt.
Ich fand es klasse, daß einige Türkinnen sich da offenbar trauten,
zu mir zu halten. Daß die sagen, dann hat sie das halt gemacht, ist
doch ihre Sache, ist sie dadurch ein schlechterer Mensch? Vielleicht kann
ich für manche Türkinnen eine Art Vorbild sein. Nicht, daß sie
mir das nachmachen sollten, das wirklich nicht, aber daß sie vielleicht
sehen, da lebt eine Türkin ihr eigenes Leben.
In Ihrem zweiten Film, den Sie gerade in Hamburg drehen, "Kebab Connection",
spielen Sie eine Italienerin.
Es ist eine kleine Rolle, aber es hat mich gefreut, daß es keine Türkin
ist. Türken müssen in Deutschland immer Türken spielen, und
dann ist es immer dasselbe Klischee, immer dasselbe Thema. Natürlich,
wenn das so schöne Bücher sind wie "Gegen die Wand",
würde ich liebend gerne wieder eine Türkin spielen. Aber ich möchte
nicht als die Türkin bekannt sein, sondern einfach als Schauspielerin.
Auch nicht als Ex-Pornodarstellerin. Schauspielerin. Das ist die Gegenwart.
Es fällt auf, daß Ihre Nase heute ein wenig stupsiger ist als
noch in "Gegen die Wand". Haben Sie sie operiert, um weniger türkisch
auszusehen?
Nee, überhaupt nicht. Ich hatte seit meinem 17. Lebensjahr Komplexe
wegen meiner Nase, ich fand sie zu lang irgendwie, und ich habe mir seitdem
gesagt, wenn ich es mir einmal leisten kann, werde ich sie operieren lassen.
Das war mein Traum. Ich muß aber sagen, ich hätte mir die Nase
nicht vor dem Film operieren lassen. Die alte Nase gehört noch in diesen
Film rein. Aber danach hat für mich ein neues Leben angefangen.
Und das alte holt Sie gerade mit ziemlicher Wucht ein.
Natürlich ist es jetzt für die "Bild"-Zeitung interessant,
was ich alles schon gemacht habe, aber diese Aufregung? "Filmdiva" haben
sie mich genannt! "Filmdiva" und "Pornostar". Hallo?
Ich war eine kleine Pornodarstellerin und mehr nicht. Und als das mit der
deutschen Filmdiva irgendwie nicht gezogen hat, anscheinend, da sind sie
dann plötzlich die türkische Schiene gefahren, dann hieß es
plötzlich: die junge Türkin.
Was ist schlimmer: Daß sich jetzt Bekannte aus Ihrer Vergangenheit
zu Wort melden und alle etwas über Sie zu sagen haben - oder daß Ihre
Familie da mit hineingezogen wird?
Ich finde alles schlimm. Da melden sich jetzt irgendwelche Leute und behaupten,
ich sei "naturgeil" gewesen oder hätte damals schon Starqualitäten
gehabt und jeder hätte gewußt, daß ich mal berühmt
werden würde. So ein Quatsch! Die kannten mich doch alle kaum. Und natürlich
finde ich es auch schlimm, daß sie an meine Eltern herangetreten sind.
Aber daß meine Eltern dazu dann auch etwas gesagt haben, finde ich
schade.
Wahrscheinlich waren Sie mit der Situation überfordert.
Ich mache ihnen keinen Vorwurf, die stellen das sicher sehr geschickt an,
diese "Bild"-Reporter. Jetzt melden sich sogar Leute, die doch
eigentlich wissen müßten, daß man sich dazu nicht äußert
- ehemalige Lehrer, Amtsleiter. Plötzlich wollen alle immer schon gewußt
haben, daß ich es sowieso nicht lange aushalte in der Müllabteilung,
weil ich ja immer Star sein wollte oder so. Oder meine Schwester. Ich nehme
es ihr zwar nicht übel, wirklich nicht, aber daß auch sie sich öffentlich äußern
mußte, das finde ich eigentlich traurig. Aber die Methoden sind halt
ziemlich gerissen. Die "Bild"-Zeitung sagt mir zum Beispiel: Wir
wollen jetzt an deine Eltern ran. Aber wir können sie in Ruhe lassen,
wenn du uns ein Interview gibst. Ich laß mich ganz bestimmt von denen
nicht erpressen.
Was sagen Sie denn dazu, daß Uschi Glas Ihnen öffentlich beisteht?
Ganz ehrlich, ich möchte mich bei allen bedanken, die mir beigestanden
sind, auch bei Uschi Glas. Ich habe noch nie so einen Rückhalt erlebt
in meinem Leben, noch nie.
Glauben Sie, der ganze Rummel um Ihre Person hat eine Auswirkung auf den
Film, der am 11. März ins Kino kommt?
Ich glaube, daß da jetzt mehr Leute reingehen werden. Ich würde
das den Leuten auch empfehlen: Bevor sie mir gegenüber irgendwelche
Vorurteile haben, sollten sie sich den Film erst mal ansehen. Dann können
sie immer noch über mich urteilen, aber sie sollten ihn sich erst mal
angucken. Ich meine, wir haben mit diesem Film den Goldenen Bären geholt
- für Deutschland das erste Mal seit achtzehn Jahren und für die
Türkei zum ersten Mal überhaupt. Das sollte man auch nicht ganz
vergessen.
Interview Johanna Adorjan
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.02.2004, Nr. 8 / Seite 19
Bildmaterial: Christian Thiel, dpa/dpaweb
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