Sänger von Welthausen
Ein Treffen zu Einar Schleefs 60. Geburtstag am Geburtsort
VON FRANK KEIL
Wie soll man sich am Grab von jemandem verhalten, den man zwar schätzt, aber denn man selbst nie kennen gelernt hat? Es ist früh und kalt und es regnet nicht. Zum Glück ist da die städtische Fremdenführerin, die mit der Beherztheit der Praktikerin die verunsicherte Schar vom Grabe Einar Schleefs weg in die Stadt lotst. Manchmal stehen bleibt, auf das eine und andere Haus zeigt und stets sagt: "Wenn Sie das Buch Gertrud gelesen haben, werden Sie wissen, dass ...". So fortführt bis ins legendäre Cafe Kolditz, wo man auf den ersten Redner wartet, der schon in der Stadt weilt, aber das Cafe nicht findet. Philosoph halt.
Sangerhausen, Hauptperson auf 900 Seiten "Gertrud"; Schleefstadt, ohne dass sich irgendwo ein amtlicher Hinweis findet. Austragungsortes eines dreitägigem Symposiums wie eines kleinen Festivals, anlässlich Schleefs Sechzigstem. Seiner Geburtsstadt geht es nicht gut. Die Arbeitslosenquote liegt weit jenseits der zwanzig Prozent und daran wird sich nichts ändern, auch wenn hier wie beabsichtigt eine Motorradfabrik errichtet werden wird. Neulich fanden sich die Sangerhauser zu später Stunde in den Tagesthemen wieder, als Hauptstadt der Arbeitslosigkeit im Osten tituliert. Von Ulrich Wickert mehrmals schmallippig Wolfgang Clement vorgehalten, der noch schmallippiger antwortete, man müsse eben da hin gehen, wo die Arbeit sei. Das haben die Leute schon getan. Die Stadt steht zur Hälfte leer. Desolate Altbauten, fensterlos neben Trümmergrundstücken wie auf den S/W-Fotos von Schleef aus den frühen Sechzigern. Im Gegenzug warten komplett renovierte Plattenbauten auf Bewohner, mit Bedarf an einer Mehrraumwohnung und für Mieten, für die man auf dem Prenzelberg oder im Schanzenviertel vielleicht noch ein WG-Zimmer erhascht. Dafür kennen die Geschäfte keine verlängerten Öffnungszeiten und das Cafe am Markt öffnet Samstags erst gar nicht.
Drückeberger und Fahnenflüchtiger
Emsig tätig dagegen der "Einar-Schleef-Arbeitskreis Sangerhausen", getragen von den örtlichen Bewunderern gegen die Ablehner, die sich sogleich fanden, als Anfang der Achtziger ein Exemplar der Gertrud heimlich von Hand zu Hand ging und für viel Aufregung sorgte: Die einen fanden sich zu mies beschrieben, die anderen gar nicht erwähnt. Erst neulich hat man dem Freundeskreis jenes zerlesene Buch überreicht, das nun als Mix aus Dokument und Reliquie darauf wartet, ausgestellt zu werden. Lebendig die Vorhaltungen - wie der Radiokollege berichten kann: Ganz harmlos hatte der während einer Pause eine Gaststube betreten und fand sich sogleich von Einheimischen umringt, die ihm ihre Meinung geigten: Ein Drückeberger sei der Schleef gewesen, ein Fahnenflüchtiger.
Sie hier inmitten all des Schlamassels sitzen zu lassen, in den Westen abzuhauen, es sich dort bequem zu machen und über sie auch noch unverständliches Zeugs zu schreiben, wer wollte das denn lesen. So spaltet Schleef weiterhin die Sangerhauser Gemeinde in die, die andere Sorgen haben und in die, denen er hilft, das ihre Stadt und ihr Leben mehr war, ist und sein wird als eine Ansiedlungsstätte für Drogeriemärkte, die scheinbar überall überleben: die Lehrer, den Architekten, den Arzt und den grauhaarigen Buchhändler, der aufgeregt wie ein kleiner Junge mit seinem Schleef-Büchertisch von Veranstaltung zu Veranstaltung eilte, unendlich stolz auf die druckfrischen Exemplare des ersten Bandes der Tagebücher, den Sangerhauser Jahren. Sonntag aber wollte er ruhen, zum Entsetzen der Symposiums-Crew. "Hier sind fünfzig Leute und alle wollen kaufen", wie einer von ihnen ins Handy bellte.
Ein Sack voll Flöhe
Da wurde sie kurz sichtbar: die Bruchstelle zwischen Heimatforschern und sich kühl gebenden Wissenschaftlern. Dabei sind beide aufeinander angewiesen: Die einen brauchen die Segnungen durch Publikationen, Ausstellungen, Forschungen, um dem Sumpf des Kleinstädtischen zu entfliehen; die anderen, deren Orts- und Namenkenntnisse, um all die Hin- und Querverweise im Werk zu dechiffrieren, denn wenn Schleef etwas war, dann Sammler, Horter, Materialist. Weshalb man dann doch immer wieder einträchtig nebeneinander saß, in der alten Schulaula etwa, wo Schleef noch als Schüler seine - sagen wir es ruhig - erste Theaterarbeit ablieferte und die heute keine Aula mehr ist, sondern als Mehrzweckraum eines Freizeitzentrums sich über die Runden zu retten sucht. Hier spätestens hätte man gemeinsam auf die Pathospauke hauen können; hätte eine Urszene kreieren und daran naschen können. Man tat es nicht.
Man gab die Totentrompeten I oder IV; man gab die dramatisierte Gertrud. Man lies dazu Schleef in der Schwebe zwischen Welterfahrer und Chronist pendeln, man suchte die Begegnung, denn am Ende wird der Einar doch einfach der Einar, ein "Menschenklotz" als den ihn Günther Rühle als einstiger Intendant vom Frankfurter Schauspiel beschrieb. Als er erzählte, wie es damals war, als man den Schleef von der Bühne und aus dem Theater brüllen wollte, da wurde es im Kolditz so still, dass es einem in den Ohren rauschte. Man braucht halt Geschichten, Fleisch und Stoff, Kontextualität hin, Dekonstruktion her.
So werden immer wieder Germanisten, Doktoranten wie schlichte Fans nach Sangerhausen reisen, werden das Grab aufsuchen und den Fußweg entlang der Gonna gehen, den Einars Mutter Gertrud immer ging, wenn sie nicht mehr oder noch nicht schlafen konnte. Und irgendwann stehen sie vor dem heute unverputzten Haus in der Mogkstrasse 24, das Willy Schleef einst für seine Familie baute und in dem heute ganz normale Leute wohnen, die sich wundern, dass immer wieder Fremde vor ihrem Heim verharren, auf der Suche nach verlorenen Zeiten. Dabei ist die Zeit ein Monstrum; ein Witz, eine Illusion, ein Abgrund, ein Sack voll Flöhe und nicht zu greifen, wie spätestens jeder weiß, wenn er das Buch Gertrud gelesen hat.DRUCKEN     VERSENDEN     LESERBRIEF
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Dokument erstellt am 19.01.2004 um 16:36:23 Uhr
Erscheinungsdatum 20.01.2004

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